Gelesen 16

146514117 e2dae842a5Irgendwie passt das Buch zu Weihnachten. Engel spielen im Leben und entsprechend auch in den Memoiren von Modeschöpfer Harald Glööckler eine herausragende Rolle. Er glaubt an die Macht der Engel – in vielen Lebenssituationen standen sie ihm zur Seite und halfen dem Meister der Selbstinszenierung die richtige Entscheidung zu treffen.

Harald Glööckler stammt aus dem Maulbronner Ortsteil Zaiersweiher, schwäbische Provinz. Die Eltern seines Vaters hatten einen großen Bauernhof, sein Vater war Metzger und seine Mutter war seine erste große Liebe. Dramatischer Höhepunkt des ersten Kapitels ist der Tod seiner Mutter. Glaubt man der Darstellung Glööcklers, dem zum Verfassen des Buches die Autorin Christiane Stella Bongertz zur Seite stand, ist die Mutter im Alter von 39 Jahren an den Folgen eines Treppensturzes gestorben. Sein Vater habe sie in Rage und volltrunkenem Zustand die Treppe hinuntergestoßen, schreibt Glööckler.

Im weiteren Verlauf des Buches beschreibt der exaltierte Modeschöpfer das Auf und Ab seiner geschäftlichen Bemühungen, an denen von Beginn an sein Lebensgefährte Dieter Schroth beteilgt war und bis zum heutigen Tage ist. Deutlich mehr Aufwand betreibt er allerdings beim Beschreiben seiner aus seiner Sicht überschwänglichen Erfolge. Die harten Zeiten kommen oft nur beiläufig vor. Dennoch erfährt man viel über das System Glööckler und die Bedeutung von Show und Promis für seinen mutmaßlichen Erfolg. Es kann einem schon schwindlig werden, wenn man liest wie Glööckler um die Welt jettet, um Promis zu besuchen und seine Shows (die eher im näheren Umfeld) zu bestreiten. Dabei handelt es sich natürlich in der Regel um Frauen. Am liebsten hat er Gina Lollobrigida, Brigitte Nielsen und die Weather Girls. Zugegeben, seine Top-Stars hatten zu jener Zeit, als er sie zu seinen Shows bestellte, die besten Zeiten schon hinter sich. Offensichtlich hat das dem bunten Treiben von Harald Glööckler nicht geschadet.

Zufälle haben ihn immer wieder in die Arme von Leuten getrieben, die ihm mit Anerkennung begegneten und zu neuen Aufträgen und Aufgaben verholfen. Leute, die den selbst ernannten Modezar nicht schon seit 20 Jahren auf dem Schirm haben, werden ihn wohl hauptsächlich als Verkäufer in Teleshoppingsendern kennen. Schicksalhaft war seine Begegnung mit dem damaligen Chef von HSE 24, Dr. Konrad Hilbers. Er machte Glööckler zum Teleshoppingstar und brachte diesen seinem Traum ein bisschen näher, aus jeder Frau eine Prinzessin zu machen. Ab 2011 ist Glööckler bei QVC unter Vertrag. Seit Hilbers 2007 eine Aufgabe im damaligen HSE 24-Mutterkonzern Arcandor antrat, habe sich bei dem Ismaninger Unternehmen vieles zum Schlechten verändert, schreibt Glööckler ein wenig enttäuscht und verbittert. Jetzt geht er mit den Teilen seiner Pompöös-Kollektion beim Düsseldorfer Konkurrenten auf Sender. Im Klingel-Katalog ist er mittlerweile mit dem Label Glööckler präsent.

Die Autobiographie von Harald Glööckler ist insgesamt eine recht kurzweilige und unterhaltsame Lektüre. Er ist eine schillernde Figur in der Modeszene. Er ist umstritten und wird sicher nicht von allen geliebt. Viele seiner Kundinnen scheinen jedoch echte, hartgesottene Fans zu sein. Für alle, die an Engel glauben und den Protagonisten gut finden, ist dieses Buch eine Pflichtlektüre. Man muss allerdings stets beachten, dass die Grenze zwischen Realität und Fiktion nicht ganz klar ist, in Glööcklers Buch wie in seinem Leben.

Absolutes Manko: Es fehlen die Bilder im Buch. Gern würde man sehen, in welchen Outfits sich Glööckler bei seinen Shows und Partys präsentiert hat. Auch die Auftritte mit den Promis hätte ich gern dokumentiert bekommen. Genial hingegen ist der Schutzumschlag, der sich zu einem Poster auffalten lässt, mit großartigen Porträts des 45-Jährigen. Da ich nicht wirklich ein Glööckler-Fan bin, bekommt das in vielen Passagen etwas zu leicht daher kommende Buch 4 von 10 Punkten.

Harald Glööckler und Christiane Stella Bongertz, Harald Glööckler, Lübbe, 2010, 272 Seiten, 19,90 Euro.

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Gelesen 15

Das Ende ist mein Anfang von Tiziano Terzani.

Ich bin zum Glück eher selten auf Beerdigungen. Jetzt wollte es der Zufall, dass ich mit der Lektüre eines Buches, in dem es ums Sterben geht, genau einen Tag vor der Beerdigung meines Onkels fertig wurde.

„Das Ende ist mein Anfang“ heißt das Buch, in dem die Gespräche von Schriftsteller und Journalist Tiziano Terzani mit seinem Sohn Folco festgehalten sind, die die beiden in den letzten Lebensmonaten des ehemaligen Spiegel-Korrespondenten geführt haben.

Der Vater hat seine Sohn gebeten, sich die Zeit zu nehmen und die Gespräche aufzuzeichnen. Das Buch ist schon einige Zeit erhältlich und hat sich zu einem Longseller gemausert.

Es besteht grob gesagt aus zwei Teilen. Zum einen erzählt Tiziano Terzani von der Zeit, als er mit seiner Familie an verschiedenen Orten in Fernost lebte und als Korrespondent tätig war. Die Darstellung der Situationen in China und Japan ist sehr lebendig. Man lernt einiges über die jüngere Geschichte. In einem zweiten Teil steht das Sinnieren über das Leben und Sterben im Mittelpunkt.

Der Stil in dem ganzen Buch ist unaufgeregt und entspannt, selbst wenn dramatische Szenen beschrieben werden. Dieser rote Faden ist es auch, der die Lektüre sehr angenehm macht. Die Gedanken zur Vergänglichkeit beinhalten nun nicht unbedingt neue Aspekte. Allerdings baut der Leser im Verlauf des Buchs natürlich ein Beziehung zu den beiden Protagonisten auf. Tiziano Terzani blickt auf ein erfülltes Leben zurück, er ist zufrieden. Diese Zufriedenheit strahlt auf die Einschätzung von Leben und Sterben aus. Es handelt sich um ein Kontinuum. Sterben gehört zum Leben dazu. Die Möglichkeiten und Chancen, die das Leben bietet, stellt Terzani als etwas Wunderbares dar. Damit wird „Das Ende ist mein Anfang“ zu einem Mut-Mach-Buch.

Auf der anderen Seite habe ich allerdings relativ lange an der Lektüre gearbeitet. Phasenweise wird es dann doch zu ausführlich. Einem zu großen Teilen entspannten Buch fehlt es natürlich an Spannung. Auch die Ausdrucksweise und der Stil sind mir gelegentlich zu pathetisch-italienisch. Einblick in das Leben und Arbeiten eines Journalisten gibt das Werk nur sehr rudimentär.

Wenn die Lektüre zu Lebenssituation passt, es also einen Anlass gibt, sich mit Leben und Sterben auseinanderzusetzen, dann kann sie schon sehr bereichernd sein. In diesem Fall vergebe ich 8 von 10 Punkten. Als Lektüre einfach nur so, würde ich „Das Ende ist mein Anfang“ nur eingeschränkt empfehlen (5 von 10 Punkten).

„Das Ende ist mein Anfang“ von Tiziano Terzani, 2007, Deutsche Verlags-Anstalt, 416 Seiten, gebunden, 19,95 Euro. Das Buch ist auch bei Goldmann als Taschenbuch für 9,99 Euro erhältlich. Das Buch wurde auch verfilmt. Im Oktober hatte der Kinofilm mit Bruno Ganz in der Hauptrolle Premiere.

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Lesen, Schreiben, Lesen

Nur zwei Stunden war ich auf der Buchmesse in Frankfurt unterwegs. Und es war wahnsinnig inspirierend. Großartige Bücher werden dort regelmäßig großartig präsentiert. Die Atmosphäre gefällt mir immer sehr gut. Kreative treffen auf Neugierige, die ihren Wissensdurst mit Hilfe des – noch immer meist – gedruckten Wortes befriedigen wollen. Und natürlich auf Händler, die ich hier nicht unterschlagen möchte.

Besonders viel Spaß haben mir die Kinderbuchverlage gemacht. Bücher für Kinder sind etwas Wunderbares. Heute lese ich noch sehr viel vor. In wenigen Jahren werden die wissbegierigen Kleinen hoffentlich vornehmlich Bücher (oder auch digitale Endgeräte, auf denen Buchstaben und Illustrationen weiterleben werden) nutzen, um ihre Neugier und ihren Wissensdurst zu befriedigen.

Man sagt mir innerfamiliär nach, dass ich schon immer eine Leseratte gewesen bin. Objektiv betrachtet ist das nicht ganz richtig. Es gibt sicher Menschen, die noch viel mehr lesen und gelesen haben als ich. Dennoch halte ich mich für ein recht gutes Vorbild für meine Kinder. Fast schon peinlich ist es mir, dass es jemanden in meiner näheren Verwandschaft gibt, der geradezu stolz ist, nie auch nur ein einziges Buch gelesen zu haben bzw. sich nicht mehr daran erinnern zu können. Wie ist ein solches Leben möglich?

Nun gut. Das mit den Maßstäben ist so eine Sache. Neulich habe ich aber auch anderer Stelle etwas gehört, was mich damals nachdenklich gemacht hat und nach dem Besuch der Messe wieder in mir hochgekommen ist. Es wurde in einem größeren Kreis darüber diskutiert, ob es sinnvoll ist, dass die Kinder so schreiben lernen, wie es im Moment modern ist. Also nach Gehör und mit Hilfe einer Buchstabentabelle ohne ein Korrektiv. Ein Vater sagte, dass es bei seinem größeren Sohn später nie mehr mit der Rechtschreibung geklappt habe. Die Pädagogen setzen unter anderem darauf, dass durch das Lesen Orthographie nebenbei gelernt wird. Er sagte, Lesen sei halt nicht das Ding des Jungen.

Bong, das hat gesessen und einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Das Heranführen an das Lesen, die Bücher, von mir aus auch an digitale Endgeräte ist doch in der Regel die Aufgabe der Eltern, allenfalls der Eltern in Kooperation mit der Schule und den Lehrern. Einfach die Lehrmethode zu hinterfragen und zu verurteilen, und dann noch seinen Anteil am Ganzen auszublenden, halte ich für schwierig.

Ich bin froh, wenn die Kinder den Spaß am Schreiben nicht schon in den ersten Monaten in der Schule verlieren. Ich schreibe gern, wenn das meinen Kindern genauso geht (sie müssen ja nicht gerade Schriftsteller oder Journalist werden), ist mir das sehr recht. Und lesen sollen sie auch – und zwar sollen sie mehr Zeit damit verbringen, als mit jeder anderen Indoor-Aktivität. Ich weiß, die positiven Effekte von Fernsehen, Computer/Internet und Videospielen zu schätzen. Doch den Wissensdurst stillt man immer noch am besten mit Lesen. Weitere positive Effekte nimmt man da doch gerne mit.

Also: Lesen, Schreiben, Lesen – und das mit Spaß und Begeisterung. Nur so können die Kinder auch Gefallen an Sprache und Schrift finden. Der Rest ist dann eigentlich egal.

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Gelesen 14

Nein, nicht schon wieder Managementliteratur. Das hunderttausendste Buch, das mit erhobenem Zeigefinger und apokalyptischen Drohgebärden Druck auf mich und meine Art, meine Leute und das Unternehmen zu führen, ausüben möchte. In Buchstaben gegossenes Besserwissertum, von Leuten (Beratern!), die keine Ahnung haben – und davon ziemlich viel. Ein Bombardement von markigen Sprüchen mit Gehirnwindungsverankerungspotenzial – die sich nach genauem Hinsehen als Worthülsen entlarven lassen.

Stopp. Genau das ist es nicht. „Nur Tote bleiben liegen“ von Anja Förster und Peter Kreuz wirkt da ganz anders – wenn die typischen Eigenschaften von Managementliteratur auch hier an einigen Stellen aufblitzen. Dieses Buch wirkt auf den Leser – Offenheit vorausgesetzt – wie ein reinigendes Gewitter. Die Autoren, als Berater sind sie regelmäßig für die ganz großen Unternehmen unterschiedlicher Branchen im Einsatz, machen nicht nur deutlich, dass in Unternehmen zahlreiche Fehler gemacht werden, und damit das Potenzial von Mitarbeitern und Organisation mit Füßen getreten aber sicher nicht realisiert wird. Die positive Stimmung überwiegt. Zahlreiche Beispiele von Unternehmen, die das Außergewöhnliche wagen und damit vom Unternehmensführungs-Mainstream abweichen, machen Mut, als Führungskraft/Entscheider eben auch einmal aus den engen Vorgaben überholter Methoden auszubrechen. Das Buch ist gut strukturiert, sehr gut gestaltet, leicht erfassbar. Also Manager: Es gibt keine Ausrede, die paar Stunden nicht zu investieren. Außerdem gibt es das Buch auch als Hörbuch. Auto-CD-Player, MP3-Player – ist ja alles schon erfunden.

Du bist kein Entscheider, bist aber irgendwie Teil der Wissensgesellschaft, und glaubst, dieses Buch ist nichts für Dich? Weit gefehlt. Die Autoren schaffen es in diesem Buch, dass sich offensichtlich an Manager richtet, die Relevanz bestimmter Strömungen in der Internet-Gesellschaft vom unternehmerischen Umfeld auf alle Bereiche des Lebens auszuweiten. Neue Theorien oder gesellschaftsanalytische Aspekte decken sie vielleicht nicht gerade auf. Es gelingt ihnen jedoch herausragend, solche Themen wie Schwarmintelligenz und Tipping Point so geschickt unter einen Hut zu bekommen, das die Horizonterweiterung beim Lesen ganz automatisch kommt. Sie zeigen, was eine Internet-Gesellschaft, für die es ganz normal ist, sich massenmedial mitzuteilen und für alle sichtbar mitzureden, auszeichnet. Sie zeigen, wie sich das auf Unternehmen und de Art der Mitarbeiterführung auswirkt. Und gleichzeitig stellen sie dar, wie sich die ganze Welt durch das – sagen wir abgedroschenerweise – Web 2.0 verändert. Man muss sich fragen: Wie ist in unserer Zeit Unternehmensführung möglich? Genauso: Wie ist Politik möglich? Wie ist überhaupt Gesellschaft möglich? Auf die erste Frage gibt es reichlich Antworten in dem Buch. Die beiden letzte Fragen sind nur durch Ableitung zu beantworten, aber natürlich nicht endgültig.

Der Wirbel um Stuttgart 21 ist für mich durch das Buch nochmal verständlicher geworden. Social Media spielt bei der Entwicklung dieses Themas eine riesige Rolle. Das lokale Ereignis gewinnt nicht nur mittels Berichterstattung in Tagesschau und Heute Journal eine überregionale Bedeutung. Die Macht der Vielen manifestiert sich nicht mehr nur an der Wahlurne. Politik muss umdenken. Politiker sollten dieses Buch lesen und sich spätestens dann Gedanken machen.

Mir persönlich gefallen die Gedanken in den ersten drei der elf Kapitel des Buches am besten. Hervorragend wird gezeigt, wie sich die Unternehmensführung zur Not auch von unten ändern wird. Die Führungskraft in einem Unternehmen der Wissensgesellschaft muss sich und seine Aufgabe neu definieren – das wird mit der Lektüre evident. Ein Mutmacher für einen wie mich ist das Buch allemal. Ziel erreicht.

„Nur Tote bleiben liegen“ von Anja Förster und Peter Kreuz erhält von mir 9 von 10 möglichen Punkten. Abstriche gibt es, weil es eben Managementliteratur ist, die ein besseres Bild vom Unternehmertum zeichnet, als es im Moment tatsächlich noch ist. Dabei schwingt die Angst mit, dass dieses Buch zu wenige Entscheider lesen. Und: Wenn es welche lesen, besteht immer noch die Gefahr, dass sie die Inhalte nicht verstehen, nicht an sich heranlassen oder sowieso der Meinung sind, dass sie genau so sind, wie es in dem Buch idealtypisch beschrieben wird – obwohl es keineswegs so ist.

Anja Förster und Peter Kreuz, Nur Tote bleiben liegen, Campus, 247 Seiten, 24,90 Euro

Da Transparenz alles ist, sei hier erwähnt, dass ich das Buch kostenlos erhalten habe, weil ich als einer von zehn Bloggern ausgewählt wurde, über dieses Buch zu schreiben.

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Gelesen 13

Diese Lektüre hat mich beeindruckt. Mich hat beeindruckt, welche Strapazen der Autor auf sich genommen hat. Mich hat beeindruckt, wie stark der Wille oder auch der Druck ist, den die Menschen in Afrika, in krisengeschüttelten Staaten, haben oder verspüren, in das gelobte Land, nämlich nach Europa, zu kommen.

Dem italienischen Journalisten Fabrizio Gatti ist mit „Bilal“ ein ganz herausragendes Werk gelungen. Es dokumentiert – und ist dennoch in vielen Phasen so dicht und spannend wie ein Thriller. Gatti hat sich in mehreren Etappen auf die Schleuserroute in Afrika begeben, die zumindest in der Zeit, als er vor Ort unterwegs war, Tausende von Flüchtlingen täglich zurückgelegt haben.

Er ist zunächst im Senegal gestartet und bis nach Libyen gekommen. Auf diesem Teilabschnitt war er nicht undercover unterwegs, was ihn vor Folter und Tod bewahrt hat. Gatti beschreibt die Verhältniss an den unterschiedlichen Etappenzielen, wo immer wieder neue Schleuser den Flüchtlingen das Geld abknöpfen, ohne die Garantie, das gelobte Land jemals zu erreichen. Die Reise durch die Wüste erfolgt über unterschiedliche Routen. Wer von den Standardwegen abweicht, kann zwar Polizei und Armee entgehen, die den oft heimatlos geweordenen ein weiteres Mal Geld abpressen, allerdings ist man dort dem Tod auch noch näher als auf den normalen Routen.

In den großen Städten entlang des Weges gibt es so etwas wie Flüchtlinglager. Nicht nur dort kann von menschenwürdigen Umständen keine Rede sein. Gatti beschreibt die meisten Situationen ganz sachlich, trotzdem können die Darstellungen einen nicht kalt lassen. Für mich ist dieser Teil des Buches der spannendste.

Gatti denkt, an der Mittelmeerküste angekommen, offensichtlich ernsthaft darüber nach, per Schiff nach Lampedusa überzusetzen. Gespräche und der Blick auf die Realität überzeugen ihn schließlich, diese Reise in den sehr wahrscheinlichen Tod nicht aufzunehmen. Er kehrt konventionell nach Hause zurück – wo die persönlich-emotionale Komponente evident wird. Seine Partnerin kündigt die Geburt des gemeinsamen Nachwuchses an. Ein bisschen habe ich das Gefühl, dass sein Lektor ihn dazu genötigt hat, diese private Dimension mit aufzunehmen. Ich bin mir nicht sicher, ob Gatti selbst auf diese Idee gekommen ist. Tatsächlich verdichtet dieses Wissen den zweiten großen Teil des Werkes ein wenig. Der Leser ist emotional involviert.

Tatsächlich ist die Undercover-Ermittlung im Flüchtlingslager auf der Insel Lampedusa der wahrscheinlich noch gefährlichere Teil seines Abenteuers, auf das er sich lange vorbereitet hat. Als Bilal lässt sich aus dem Meer fischen und internieren. Die Verhältnisse in dem Lager sind sehr übel. Die Toiletten sind stets übergelaufen. Wer seine Notdurft verrichten will, steht nach Gattis Aussagen bis zu den Knöcheln in Kot und Urin. Das Personal zeichnet sich duch Willkür und unmenschliches Verhalten aus. Gatti baut in seiner Schilderung Distanz zu dem Protagonisten auf, indem er in der dritten Person von sich und seinen Erlebnissen berichtet.

In einem dritten Teil geht es zurück an eines der Etappenziele, Agadez, eine Stadt im Niger (einem der ärmsten Länder der Erde, in dem übrigens auch kürzlich eine dramatische Flut viele Opfer gefordert, Obdachlose produziert und die Landwirtschaft in Mitleidenschaft gezogen hat). Dort trifft er einige der Männer, mit denen er unterwegs Freundschaft geschlossen hat. Alle haben es nicht geschafft zu überleben. Für Europa hat es schon gar nicht gereicht.

Die Recherchen Gattis fallen in jene Zeit, als Berlusconi dem Dikatator Gaddafi geholfen hat, wieder Anerkennung in der Welt zu finden. Bilateral hat man sich auf die „Lösung“ des Flüchtlingsthemas geeinigt. Libyen fängt heute mit italienischen Schnellbooten die Flüchtlingsschiffe ab. Im besten Fall werden die Flüchtenden in ihre Herkunfts- oder an diese vermeintlich sicheren angrenzenden Ländern abgeschoben. Was in Libyen wirklich passiert, weiß niemand so genau. Das Lager auf Lampedusa ist geschlossen, so effektiv ist der Einsatz der Schnellboote.

Gatti hat ein hochbrisantes und interessantes Thema aufgegriffen. Ein Thema, das uns nicht so nahe steht. Aber es gut, über die Lektüre eines solchen Buches gezeigt zu bekommen, wie es in der Welt draußen aussieht. Das rückt die eigenen Probleme an die Stelle zurück, wo sie hingehören.

8 von 10 Punkten kann ich allemal vergeben. Die emotionale Komponente ist etwas störend und am Ende fehlt mir ein wenig die Spannung.

Fabrizio Gatti, Bilal – Als illegaler auf dem Weg nach Europa, Kunstmann, 457 Seiten, 24,90 Euro

Anmerkung: Ich danke an dieser Stelle bilandia.de. Ich habe unter anderem dieses Buch bei einer Facebook-Aktion dieses gut gemachten Social-Commerce-Online-Buchshops gewonnen. Ich hätte es wahrscheinlich nicht gekauft. Jetzt weiß ich, dass es mich bereichert hat.

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Gelesen 12

Dieses Buch hat mich an mein Limit gebracht. Der gleichnamige Wälzer von Frank Schätzing hat sich als unerwartet zähe Kost präsentiert, wie ich finde. Mindestens 600 der 1300 Seiten waren mir zuviel. Die Spannung konnte nur selten über über längere Phasen aufrecht gehalten werden. Der Autor hat deutlich zu viele Charaktere einführen müssen. Viele von ihnen waren einfach nur schrill – gebraucht hätte man sie im Verlauf der Story nicht.

Schätzing komponiert gewohnt gekonnt. Die kleinsten Details werden punktgenau beschrieben. Die Recherche und die Beschreibung von Sachverhalten ist makellos, wie immer. Der Blick in die nahe Zukunft hat etwas Visionäres. Die weitere Bedeutungssteigerung der Wirtschaft, die mehr und mehr das politische Handeln bestimmt, wird sehr schön skizzert und manifestiert sich irgendwie auch nur zwischen den Zeilen. Dennoch bin ich nie in einen Lese-Flow gekommen. Phasenweise nimmt die zweigeteilte Story natürlich Fahrt auf. Auch der Showdown ist spannend. Insgesamt sind die Beschreibungen der Geschehnisse auf dem Mond und auf Gaia extrem sperrig. Schätzing ist in einen Schreib-Flow gekommen – Hauptsache Flow.

Das Zusammenführen der zwei Erzählstränge – hier die Erde, dort das All – gelingt Schätzing auch sehr gut, keine Frage. Technisch ist alles in Ordnung. Und dennoch: Ich habe gelegentlich darüber nachgedacht, das Buch zur Seite zu legen. Der Weg zum Ende erschien mir zu mühsam. Und der Weg war mühsam. Schließlich möchte ich aber nicht von Zeitverschwendung sprechen. Daher kann ich „Limit“ 4 von 10 möglichen Punkten geben. Dem nächsten Buch von Frank Schätzing wünsche ich wieder mehr Drive.

Frank Schätzing, Limit, Kiepenheuer&Witsch, 1320 Seiten, 26 Euro.

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Gelesen 11

Drei Kinder werden abgeschlachtet, die Mutter liegt mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne. Alles deutet darauf hin, dass eine verzweifelte Mutter keinen anderen Ausweg als einen erweiterten Suizid mehr sah. Aber natürlich sieht die Wahrheit anders aus – und das wird allzu früh deutlich in dem Starnberger-See-Krimi „Schwarze Ufer“ von Michael Soyka. Das ist einer der kleineren Schwachpunkte eines sehr spannenden und gut geschriebenen Buches, in dem man unter anderem einiges über den Alltag in psychiatrischen Anstalten erfährt.

Und das kommt vor allem daher authentisch rüber, weil der Autor selbst Professor für Psychatrie ist. Entsprechend ist auch einer der Protagonisten ein Psychiater, dessen Aufgabe es ist, die vermeintliche Täterin zu begutachten, ihren Geist zu erforschen. Der ermittelnde Kommissar trägt den bezeichnenden Namen Fels und kommt – wie viele seiner Kollegen in anderen Krimis dieser Art – einigermaßen abgebrüht und besserwisserisch daher. Das deckt sich nicht ganz mit der schwachen Ermittlungsleistung, die dazu führt, dass der Fall zu schnell zu den Akten gelegt wird.

Auch hier ist ein Schwachpunkt des Buches versteckt. Man wundert sich, warum der eigentlich Täter, der schon recht früh eingeführt wird, nicht früher genau unter die Lupe genommen wird. Um auch noch den letzten Punkt zu erwähnen, der mir negativ aufgefallen ist: Eine Lektorschwäche offenbart sich an ein oder zwei Stellen, in denen die Charakterisierung der Figuren etwas redundant ist.

Genug gemeckert: Das Buch ist spannend, die Story ergreifend, die Charakter ausgeprägt. Der Schreibstil ist in keinster Weise professoral. Es macht viel Spaß, das Buch zu lesen. Dafür gibt es 7 von 10 möglichen Punkten.

Michael Soyka, Schwarze Ufer, Allitera Verlag, 236 Seiten, 12,90 Euro

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Gelesen 10

Ulrike Almut Sandig ist eine junge Autorin, Jahrgang 1979. Sie kommt, wie wahrscheinlich viele junge Autoren, aus der Lyrik. Im vergangenen Jahr wurde sie mit dem renommierten Leonce-und-Lena-Preis in Darmstadt ausgezeichnet. In dem Bändchen Flamingos sind nun erstmals Kurzgeschichten von ihr gebündelt erschienen.

Die Geschichten erzählen von Außenseitern, Kaputten, Behinderten. Sandig gelingt es, selbst üble Dinge sehr unaufgeregt und lakonisch darzustellen. Das gefällt mir. Sie stiftet Verwirrung im eigenen Hirn und regt so zum Nachdenken an. Insgesamt gefällt mir der Auftakt des Buches recht gut. Mit der längsten Geschichte, Mutabor, kommt es zu einem Bruch. Aus meiner Sicht fällt die Qualität im zweiten Teil deutlich ab.

Zu sehr verliert sich die Autorin dann im Assoziativen. Vielleicht fällt es einem auch nur mehr und negativer auf als zu Anfang. Dass Sandig ihre Geschichten und wohl auch ihre Gedichte, die ich nicht kenne, assoziativ schreibt, ist evident. Das ist grundsätzlich eine Art zu schreiben, die mir gefällt. Allerdings muss der Leser die Möglichkeit bekommen, die Gedanken nachzuvollziehen. Das fällt mir hier manches Mal schwer. Man klinkt sich aus und steigt trotz der Kürze der Texte dann oft nicht wieder ein. Das ist schade.

Ich habe das Gefühl, dass Sandig auch bald mit einem ersten großen Werk aufwarten wird. Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass es mein Interesse wecken kann. Stilistisch kann man sich gut vorstellen, was einen da erwarten wird.

Der gute Anfang bekommt von mir 7 von 10 Punkten. Die zweite Hälfte dann nur noch 3 Punkte. Das ergibt einen Schnitt von 5 Punkten.

Ulrike Almut Sandig, Flamingos, Schöffling&Co, 17,90 Euro.

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Gelesen 9

Die Deutsche Knigge-Gesellschaft ist im Moment wohl auf der Suche nach dem korrekten Wort für den weiblichen Ober. Hier ist eben nicht klar, wie man sich am ehesten seiner Bestellung nähert, wenn die weibliche Bedienung in einem Lokal die eigene Anwesenheit übersieht. „Hallo“, „Entschuldigung“, „Frau Oberin“: Das sind sämtlich No-Gos. Nur die richtige Anrede haben wir noch nicht gefunden.

Bei den Österreichern ist das anders. Dort heißt es „Herr Ober“ und „Fräulein“. Andere Begriffe werden nicht akzeptiert und im geringsten Fall mit Missachtung der eigenen Person bestraft. Ich habe das während meines einjährigen Aufenthaltes in Wien deutlich gespürt. Und jetzt kann man dies und viele andere Dinge, die man über Österreich wissen sollte in einem unterhaltsam Buch nachlesen. Es heißt „50 einfache Dinge, die Sie über Österreich und die Österreicher wissen sollten“. Geschrieben wurde es von einem Journalisten namens Harald Schume.

In dem Buch mit seinen 50 Kapiteln geht es um Sport (Ski, Formel 1 und Fußball) aber auch um Kultur, Opernball, Salzburg, Falco. Der Österreicher Schume greift alle Klischees auf, die aber tatsächlich so oder so ihre Entsprechung im wahren Leben haben. Mein Wienaufenthalt liegt nun schon einige Jahre zurück – aber an sehr vieles, was mir jetzt in dem Buch wieder begegnet ist, kann ich mich noch sehr genau erinnern.

Schume widmet auch jedem Bundesland ein eigenes, kurzes Kapitel. In wenigen Zeilen schafft er es, die vielfältigen Eigenarten der Menschen in den unterschiedlichen Regionen herauszuarbeiten. Es gelingt ihm, sich gleichzeitig lustig zu machen und trotzdem nicht respektlos zu sein. Das ist bewundernswert.

Das Buch ist sehr gut geschrieben, aber natürlich keine hohe literarische Kunst. Kurzweile ist angesagt. Für Leute, die sich erstmals mit Österreich und den Österreichern beschäftigen wollen (gibt es die Newcomer wirklich?) ist das Buch eine gute Vorbereitung auf das Aufeinandertreffen mit den Einheimischen. Es kann einen auch davor bewahren Fehler zu machen (s.o.). Österreich-Kenner dürfen einfach nur Spaß mit der literarischen Begegnung mit Land und Leuten haben.

Das Buch bekommt von mir 10 von 10 Punkten, weil man ein solches Buch einfach nicht besser schreiben kann.

Harald Schume, 50 einfache Dinge, die Sie über Österreich und die Österreicher wissen sollten, Westend Verlag, Frankfurt, 227 Seiten, 14,95 Euro

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Gelesen 8

Gerald Hüther ist ein herausragendes Buch gelungen. Der Neurobiologe beschreibt in dem Buch „Männer – Das schwache Geschlecht und sein Gehirn“ den Transformationsprozesse zum Mann. er macht deutlich, dass es nicht das Geschlechtsteil ist, was den Mann zum Mann macht. Vielmehr ist es das Gehirn, das wesentlich zum Mannsein führt.

Er räumt mit dem Mythos auf, das genetisch festgelegt ist, was für ein Mann ein Mann wird. Genetisch festgelegt ist das Geschlecht – und dann fängt die Arbeit des Umfeldes und des Subjektes selbst an. Wichtig ist der letzte Punkt. An einer Stelle im Buch heißt es: „Als Mann wird man nicht geboren und zum Mann wird man auch nicht gemacht.“ Die Mannwerdung ist eine Selbstkonstruktion, so wie eine Stufe vorher auch das Hirn sich selbst konstruiert.

Das Buch ist eine lohnende Lektüre für alle. Besonders interessant ist es aber vor allem für Väter von Jungen. Sie verstehen nach und nach, wie wichtig es ist, ein authentischer, liebender Vater zu sein, damit aus dem schwachen Geschlecht – aus Hüthers Sicht ist dieser Tatbestand auf das ungleiche 23 Chromosomenpaar zurückzuführen (Dem Mann fehlt hier ein Ersatzrad, wie Hüther schreibt) – ein genauso authentischer und liebender Mann werden kann. Nach dem Lesen dieses Buches kann niemand mehr sagen: „Es ist eben wie es ist.“ Für Frauen ist es ebenso interessant, versucht es doch das Herauszuarbeiten, was einen Mann ausmacht.

Im ersten Teil des Werkes geht es um die Natur des Männlichen. Erfrischend lakonisch wird Hüther gelegentlich, wenn er seine Beispiele aus der Welt der Einzeller und Tiere ausführt. Hier geht es sehr biologisch zu. Selten aber habe ich ein wissenschaftliches Buch gelesen, das derart lesbar ist. Das gibt es sonst leider nur im anglo-amerikanische Raum. Im Logbuch der männlichen Kursbestimmung hält er die Merksätze fest, die den unauthentischen Mann auf den Boden der Tatsachen zurück befördern.

Im zweiten Teil schildert den Prozess der Mannwerdung in zwölf Stationen. Er schreitet den Weg von der Zeugung bis zum Tod ab. Der Mann hat aus Sicht von Hüther mehr Antrieb und weniger Stabilität als die Frau. Das macht ihn anfällig für die Wahl falscher Vorbilder. Er bewegt sich auf einem schmalen Grad. Schon das Kleinkind braucht Orientierung, die ihm als Vorbild ein authentischer Mann als Vater gibt, der den kleinen Mann so annimmt wie er ist und ihm Freiräume lässt. Die beiden letzten Punkte sollten idealerweise auch die Mütter beherzigen.

Hüther schreibt in seinen Nachbemerkungen, das Verliebtheit ein Gefühl, Liebe jedoch eine aus der Verliebtheit geformte Haltung ist. Diese gilt es, der Partnerin und seinen Kindern entgegenzubringen. Dann findet der Mann sich in der Rolle, in der völlig ausgeglichen sein sollte. Eine Verdrängung durch übertriebenes Engagement im Job beispielsweise steht dem entgegen. Wer also will, dass seine Kinder die Chance haben, auf den richtigen Lebensweg einzuschwenken, sollte hier ganz genau sein Verhalten abwägen.

Gerald Hüthers „Männer – Das schwache Geschlecht und sein Gehirn“, Vandenhoeck & Rupprecht erhält von mir 10 von 10 Punkten. Um die Erkenntnisse zu verankern und ein noch authentischerer Mann zu werden, werde ich das Buch auch sicher noch einmal und noch einmal lesen.

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