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Diese Lektüre hat mich beeindruckt. Mich hat beeindruckt, welche Strapazen der Autor auf sich genommen hat. Mich hat beeindruckt, wie stark der Wille oder auch der Druck ist, den die Menschen in Afrika, in krisengeschüttelten Staaten, haben oder verspüren, in das gelobte Land, nämlich nach Europa, zu kommen.

Dem italienischen Journalisten Fabrizio Gatti ist mit „Bilal“ ein ganz herausragendes Werk gelungen. Es dokumentiert – und ist dennoch in vielen Phasen so dicht und spannend wie ein Thriller. Gatti hat sich in mehreren Etappen auf die Schleuserroute in Afrika begeben, die zumindest in der Zeit, als er vor Ort unterwegs war, Tausende von Flüchtlingen täglich zurückgelegt haben.

Er ist zunächst im Senegal gestartet und bis nach Libyen gekommen. Auf diesem Teilabschnitt war er nicht undercover unterwegs, was ihn vor Folter und Tod bewahrt hat. Gatti beschreibt die Verhältniss an den unterschiedlichen Etappenzielen, wo immer wieder neue Schleuser den Flüchtlingen das Geld abknöpfen, ohne die Garantie, das gelobte Land jemals zu erreichen. Die Reise durch die Wüste erfolgt über unterschiedliche Routen. Wer von den Standardwegen abweicht, kann zwar Polizei und Armee entgehen, die den oft heimatlos geweordenen ein weiteres Mal Geld abpressen, allerdings ist man dort dem Tod auch noch näher als auf den normalen Routen.

In den großen Städten entlang des Weges gibt es so etwas wie Flüchtlinglager. Nicht nur dort kann von menschenwürdigen Umständen keine Rede sein. Gatti beschreibt die meisten Situationen ganz sachlich, trotzdem können die Darstellungen einen nicht kalt lassen. Für mich ist dieser Teil des Buches der spannendste.

Gatti denkt, an der Mittelmeerküste angekommen, offensichtlich ernsthaft darüber nach, per Schiff nach Lampedusa überzusetzen. Gespräche und der Blick auf die Realität überzeugen ihn schließlich, diese Reise in den sehr wahrscheinlichen Tod nicht aufzunehmen. Er kehrt konventionell nach Hause zurück – wo die persönlich-emotionale Komponente evident wird. Seine Partnerin kündigt die Geburt des gemeinsamen Nachwuchses an. Ein bisschen habe ich das Gefühl, dass sein Lektor ihn dazu genötigt hat, diese private Dimension mit aufzunehmen. Ich bin mir nicht sicher, ob Gatti selbst auf diese Idee gekommen ist. Tatsächlich verdichtet dieses Wissen den zweiten großen Teil des Werkes ein wenig. Der Leser ist emotional involviert.

Tatsächlich ist die Undercover-Ermittlung im Flüchtlingslager auf der Insel Lampedusa der wahrscheinlich noch gefährlichere Teil seines Abenteuers, auf das er sich lange vorbereitet hat. Als Bilal lässt sich aus dem Meer fischen und internieren. Die Verhältnisse in dem Lager sind sehr übel. Die Toiletten sind stets übergelaufen. Wer seine Notdurft verrichten will, steht nach Gattis Aussagen bis zu den Knöcheln in Kot und Urin. Das Personal zeichnet sich duch Willkür und unmenschliches Verhalten aus. Gatti baut in seiner Schilderung Distanz zu dem Protagonisten auf, indem er in der dritten Person von sich und seinen Erlebnissen berichtet.

In einem dritten Teil geht es zurück an eines der Etappenziele, Agadez, eine Stadt im Niger (einem der ärmsten Länder der Erde, in dem übrigens auch kürzlich eine dramatische Flut viele Opfer gefordert, Obdachlose produziert und die Landwirtschaft in Mitleidenschaft gezogen hat). Dort trifft er einige der Männer, mit denen er unterwegs Freundschaft geschlossen hat. Alle haben es nicht geschafft zu überleben. Für Europa hat es schon gar nicht gereicht.

Die Recherchen Gattis fallen in jene Zeit, als Berlusconi dem Dikatator Gaddafi geholfen hat, wieder Anerkennung in der Welt zu finden. Bilateral hat man sich auf die „Lösung“ des Flüchtlingsthemas geeinigt. Libyen fängt heute mit italienischen Schnellbooten die Flüchtlingsschiffe ab. Im besten Fall werden die Flüchtenden in ihre Herkunfts- oder an diese vermeintlich sicheren angrenzenden Ländern abgeschoben. Was in Libyen wirklich passiert, weiß niemand so genau. Das Lager auf Lampedusa ist geschlossen, so effektiv ist der Einsatz der Schnellboote.

Gatti hat ein hochbrisantes und interessantes Thema aufgegriffen. Ein Thema, das uns nicht so nahe steht. Aber es gut, über die Lektüre eines solchen Buches gezeigt zu bekommen, wie es in der Welt draußen aussieht. Das rückt die eigenen Probleme an die Stelle zurück, wo sie hingehören.

8 von 10 Punkten kann ich allemal vergeben. Die emotionale Komponente ist etwas störend und am Ende fehlt mir ein wenig die Spannung.

Fabrizio Gatti, Bilal – Als illegaler auf dem Weg nach Europa, Kunstmann, 457 Seiten, 24,90 Euro

Anmerkung: Ich danke an dieser Stelle bilandia.de. Ich habe unter anderem dieses Buch bei einer Facebook-Aktion dieses gut gemachten Social-Commerce-Online-Buchshops gewonnen. Ich hätte es wahrscheinlich nicht gekauft. Jetzt weiß ich, dass es mich bereichert hat.

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Großer Schritt

Die Frankfurter Rundschau hat den Spätsommer genutzt, um auch in Deutschland Dinge zu präsentieren, die deutlich zeigen: Die Transformation der Medien ist in vollem Gange. Noch weit revolutionärer, als das neue Konzept mit den Lokalnachrichten umzugehen, ist der jetzt erfolgte Launch der iPad-Version der FR.

Die Kritiker sind voll des Lobes. Von Meedia oder Spiegel: Alle meinen, dass die Rundschau im Moment der Maßstab für die Tageszeitungs-Apps darstellt. Und sie haben recht. Die Inhalte sind speziell für die Möglichkeiten des Tablet-Computers optimiert worden. Dafür hat man offenbar auch die Multimedia-Redaktion personell aufgestockt. Es gibt sogar zwei Versionen in einer App: Wer das iPad vertikal hält, erhält eine reine Magazin-Umsetzung der Zeitung, in der Horizontal-Variante gibt es die Anreicherung mit multimedialen Inhalten. Beide Versionen stellen allerdings nur einen Auszug aus der aktuellen Print-Ausgabe dar. Jede Ausgabe kostet dafür nur 79 Cent statt 1,60 Euro im Einzelverkauf am Kiosk.

Besonders interessant: Der Verlag arbeitet an Bundle-Angeboten. Dann gibt es ein Abo der digitalen Ausgabe in Verbindung mit einem iPad zu einem Bundle-Preis. Wenn sich solche Angebote häufen, dann ist auch der Weg frei für die massenhafte Verbreitung von iPad und anderen Tablet-Computern. In wenigen Wochen will die Frankfurter Rundschau entsprechende Angebote präsentieren. Man darf gespannt sein.

Das Revolutionäre? Die FR hat einen großen Schritt hin zur Digitalisierung der Zeitung gemacht. Ich kann mir gut vorstellen, dass die FR – auch aufgrund des wirtschaftlichen Drucks – eine der ersten Zeitungen in Deutschland sein wird, die das Analoge, mit Druckmaschinen und physischem Vertrieb, hinter sich lassen wird. Dieser Prozess kann nicht in drei Jahren über die Bühne gehen, aber vielleicht in fünf oder acht. Irgendwie ist es auch ein Wettlauf mit der Zeit. Wollen die klassischen Medien die Transformation rasch schaffen (und manche müssen das sogar), dann müssen sie auch für die Verbreitung der Trägermedien für ihren Content sorgen.  Die Rundschau hat das fest vor.

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Gehe zurück zum Lokalen

Ich bin nun seit einigen Wochen wieder einmal temporärer Dauerleser der Frankfurter Rundschau. Heute nun hat das Blatt seit seinem Relaunch und dem Umstellen auf das Tabloid-Format eine erste strukturelle und inhaltliche Anpassung vorgenommen. Am auffälligsten ist dabei: Man besinnt sich auf das Lokale.

Damit wird ganz offiziell, was sich in den vergangenen Jahren bereits abgezeichnet hat. Die überregionale Bedeutung der FR ist nun endgültig vorbei. Vor 18 Jahren zählte die Rundschau noch zu den Pflichtblättern, wenn wir im Publizistikstudium eine Inhaltsanalyse mit überregionalen Blättern machen mussten. Doch auch damals war schon klar: Die Zeitung musste um diese Position kämpfen. Heute müssen die Studenten sicher nicht mehr die FR auswerten, wenn sie Medienwirkung und den Einfluss der Berichterstattung auf Wahlentscheidungen untersuchen wollen.

Einen überregionalen Anspruch hat die FR aus meiner Sicht noch im Politikteil und im Feuilleton. Die Bereiche Wirtschaft und Sport kommen mit großem Abstand. Allenfalls die Berichterstattung über Eintracht Frankfurt ist in letzterem Ressort noch zitierfähig – aber das ist ja dann eigentlich auch nur Lokalberichterstattung.

Den regionalen Serviceteil inklusive Fernsehprogramm hat man in ein separates, geheftetes Buch ausgegliedert. Die Lokalteile hat man durch eine Etablierung mehrerer Lokalausgaben gestärkt und damit auch wieder sichtbarer gemacht. Interessant: Beim wirtschaftlich sicher such irgendwie notwendigen Zusammenstreichen der Stellen in der FR-Redaktion vor einigen Jahren sind vor allem die lokalen Standorte, allen voran Darmstadt und Darmstadt-Dieburg, betroffen gewesen. In diesen Bereichen lässt man sich vom Darmstädter Echo beliefern, womit es hier leider nicht zu einer Meinungsvielfalt kommt. Schade, dass der FR der lange Atem gefehlt hat, dem Echo echte Konkurrenz zu machen. Auch der Platzhirsch ist in den vergangenen Jahren deutlich schwächer in seinem Heimatbereich geworden. Chance vertan.

Ich halte die Rundschau für eine trotz aller schwierigen Umstände für eine recht gute Zeitung. Auch das Tabloid-Format ist absolut in Ordnung. Die Besinnung auf die Region ist korrekt. Damit nähert man sich der Wahrheit auf dem Zeitungsmarkt in Rhein-Main an. Am Ende sind es ja doch die Leser, die über Wohl, Wehe und Zukunft einer Zeitung entscheiden. Für den Bereich um Darmstadt herum würde ich mir – auch als Ergebnis aus Gesprächen mit anderen Leidensgenossen – wünschen, dass die FR auch hier wieder eine eigene Präsenz aufbaut und einen ernstzunehmenden Darmstadt und Darmstadt-Dieburg-Teil etabliert. Dann könnte man auch von einem temporären zu einem Dauerleser werden.

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